Samstag, 14. Januar 2012

Straßenbahnsafari nach Bochum

Das Survival-Kitt gepackt und auf zur Straßenbahnsafari von Witten nach Bochum.
Nach ein paar hundert Metern geht es durch die Felder, vorbei an einem urigen Bauernhof und einem alten blauen Bulli mit HSV-Bemalung. Die Strecke wird einspurig und steigt, sich um einen Berg schlängelnd, steil an. An einem Haltepunkt müssen wir auf den entgegenkommenden Zug warten. Links Acker, rechts fällt der Hang ab zur Autobahn. Ortsschild Bochum. Wir durchqueren ein hässliches Wohngebiet und überfahren das Ortsausgangsschild. Das kann nicht alles gewesen sein bei ca. 360.000 Einwohnern. Die Straßenbahn ist von der Sitzmöbelaufteilung wie die erste Klasse im ICE – auf einer Seite Doppelsitze, auf der anderen Einzelplätze – nur der Service lässt zu wünschen übrig. Im Ohr läutet Herbert Grönemeyer mit seiner Städtehymne den Einzug in die Ruhrmetropole ein und die Erwartungen sinken schlagartig bei den Zeilen
Du bist keine Schönheit,
vor Arbeit ganz grau!
Liebst dich ohne Schminke;
bist 'ne ehrliche Haut;
leider total verbaut, …

Die Innenstadt wird unterirdisch durchfahren, was einerseits den Safaricharakter schmälert, andererseits aber die Vorfreude steigert. Die Katakomben des Hauptbahnhofs sind ebenso hässlich wie die U-Bahnhöfe in Berlin, Paris oder London, nur das hier die Klapperstraßenbahn, die sich auch durch das Kaff Witten quält, an einem Bahnsteig für Untergrundbahnen hält und mit ihrer Kürze dem Ganzen einen noch schäbigeren Anblick verleiht.
Die Bomberverbände des Zweiten Weltkriegs haben ganze Arbeit geleistet und wer dachte, dass die Menschenrechtsverletzungen in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende gefunden hätten, der kennt die Bochumer Innenstadt nicht. Rechteck drängt sich an Rechteck und die Innenstadt scheint eine einzige Fußgängerzone zu sein. Einkaufszentrum grenzt an Einkaufszentrum. Beim Schlendern werde ich Zeuge eines Gespräches zwischen einem Pärchen. Er, trägt beige Cargo Hosen, eine schwarze Jacke, hat eine Glatze und die Kapuze des Pullovers erinnert farblich an eine Alditüte, redet von einem Kumpel, der anscheinend eine etwas seltsame Freundin hat. „Mit der könnte ich nicht zusammen sein. Sieht zwar ganz gut aus, aber nee! Ich versteh ihn nicht. Die Alte geht anschaffen und hatte schon 400 km drin. Das könnt ich nicht. Das geht gegen meine Ehre.“ Sie, einen Kopf kleiner, läuft neben ihm her und macht zustimmende Geräusche. Eine großartige Geschichte. Davon hätte ich gerne mehr gehört, aber leider verschwinden beide in einem der Konsumtempel.
Mein Weg führt mich durchs Bermudadreieck und ein paar Kneipen bieten sich für ein Wiedersehen an. Eine Buchhandlung, die recht klein ist, wimmelt nur so von Personal. Aber auf eine angenehme Weise haben alle immer etwas zu tun und die Kasse klingelt fast unablässig.
Auf dem Weg zum Bahnhof prangt ein großer Fisch an einer weißen Häuserfassade und lenkt den Blick auf die mit Kreide beschriebene Tafel. Dort wird für Friesische Fischsuppe und Muscheln geworben. „Heute schon gemuschelt?“, was für ein Kalauer, aber das restliche Angebot auf der Speisekarte veranlasst mich einzutreten. Der Gastraum ist überschaubar gefüllt und ich finde an einem Vierertisch Platz und lege Tasche und Mantel ab. Während ich die Karte lese kommen zwei Senioren, die sich in Hörweite niederlassen. Der Mann ist auffallend ruhig und macht den Eindruck dass er von der Frau ausgehalten wird. Diese erinnert mich erstaunlicherweise an meine Tante in Berlin. Rundlich, cremefarbener Pullover mit Kette, an der ein großer Anhänger über dem üppigen Busen baumelt. Die Wangen rund und die Haare grau und etwas wirr. Beim Essen sitzt sie in bester Bud Spencer-Manier mit im Kragen befestigter Serviette vor ihrem Teller und hält das Gespräch in Gang. Erzählt vom Arztbesuch mit Harnspiegelung und fabuliert schließlich vom Bundespräsidenten. Fetzenweise kommen ihre Aussagen herüber: „nicht leicht, geschieden, dem wollen sie was Böses…“ Unterdessen fällt auf, dass das Restaurant schlecht isoliert ist, denn viele Gäste sitzen mit Schal an ihren Tischen und löffeln Fischsuppe. Bedeuten die zwei Henkel dass man auch aus der Tasse trinken darf? Egal! Es wirkt als ob das Meer dort draußen nur ein paar Meter vor der Tür, mit seinen schwarzen Wellen an die Kaimauer klatscht. Aber es sind nur die schlecht isolierten Fenster, die das Gefühl einer steifen Brise aufkommen lassen.
Das Tischgericht schmeckt ein wenig zu fischig, aber da sollte ich es eher mit dem Brenner in „Komm süßer Tod“ halten: „Ein Hering in Bochum, der kann gar nicht frisch sein.“ Am anderen Tisch sitzt jemand, der Ähnlichkeiten mit Dittsche hat. Er trägt Ohrring und spricht mit gepresst-schnarrender Stimme und geht schon seit 40 Jahren hier essen. So alt kann der Fisch also nicht sein, wenn es ihn immer wieder herbeilockt.
„Ich hätte gerne die Rechnung und das Rezept ihrer Fischsuppe.“ Sage ich zur Bedienung. Sie: „gern“, scheint zu überlegen und sagt: „Stadtwerkefond und weiter weiß ich nicht.“ Eins zu null für sie.
Auf der Rückfahrt wünsche ich mir die Beleuchtung der Straßenbahn würde ausfallen während ich durch die Dunkelheit im Nirgendwo zwischen Bochum und Witten fahre.

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

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